FACING REALITY 




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05.04.2024

Final Countdown in Manaus




Ein Artikel auf dem London Review of Books Blog über das legendäre Teatro Amazonas in Manaus erinnerte mich an eine kuriose Dienstreise, die mich letztes Jahr nach Manaus führte. Von Belèm an der Amazonasmündung sind es sieben Tage flussaufwärts mit dem Postschiff. Man nannte Manaus auch das Paris Amazoniens: Das Opernhaus Teatro Amazonas wurde Ende des 19 Jahrhunderts mit dem Geld der Kautschuk Industrie gebaut. Manaus war einst für einen kurzen Zeitraum eine der reichsten Städte der Welt. Das ist heute nicht mehr so. Im Gegensatz zu weiten Teilen der Stadt ist das Opernhaus noch gut erhalten. In der heißen Mittagssonne wirkt es wie ein Raumschiff, das am falschen Ort gelandet ist. 

Bekannt wurde das Opernhaus einem breiten Filmpublikum durch Werner Herzog’s Film “Fitzcarraldo”, der mit dem Opernbesuch am Teatro Amazonas beginnt: Durchnässt und verspätet erscheinen Fitzcarraldo und seine Begleitung nach Tagen der strapaziösen Reise am Eingang, wo Pferde Champagner zu trinken bekommen. Mit dem Satz „He hasn’t got the ticket, but he got the right“ schaffen sie es noch in die Vorstellung. Später gibt es eine Szene, in der Klaus Kinski von einem Kirchturm ruft „I want my Opera house“. Beide Szenen zusammen geben das Entitlement und den missionarischen Eifer, der abendländischer Kultur zu eigen sein kann, vortrefflich wieder. Was ist Kolonialismus anderes als ein fieser Zweikomponentenkleber bestehend aus psychotisch-missionarischem Eifer und rationaler ökonomischer Profitmaximierung? Was man mit Sicherheit sagen kann: Es waren keine ausgeglichenen Charaktere, die von Manaus und dem Opernhaus im Verlaufe seiner Geschichte angezogen wurden. Nachdem Werner Herzog und Klaus Kinski sich Anfang der 1980er Jahre am Opernhaus abarbeiteten, inszenierte Schlingensief 2007 „Der fliegende Holländer“ von Wagner in Manaus: „Der Losung Dieter Roths folgend: ,Die Umgebung wird zum Werk und das Werk zur Umgebung‘, befreit er sich mit der Oper aus der Oper. Er geht in den Dschungel und auf den Rio Negro“. Das ganze Abenteuer ist filmisch dokumentiert auf bescheidenen 429 Minuten.

Aus dieser hier kurz wiedergegebenen Geschichte des Opernhauses kann man folgern: Jede Generation verdient ihre eigene Operninszenierung in Manaus. Leider inszenierte gerade keine deutsche Regisseur:in dort ihren Größenwahn, als ich letztes Jahr mit zwei Kollegen in Manaus war. Wir besuchten also notgedrungen eine Rock-Oper mit dem Titel „Rocka Maddalena“. Wie sich herausstellte, wurden zu einem guten Zweck von einem Orchester, einer Band und einem Sänger einige der größten Rock-Hits des 20. Jahrhunderts gecovered, darunter Bon Jovi’s „Livin‘ on a Prayer“. Das Highlight des Abends sollte jedoch erst einige Titel später auf uns warten: „Final Countdown“ von Europe, mitsamt dramatischem Gitarrensolo.

In diesem Moment wurde mir klar, dass ich gerade der Operninszenierung, die meiner Generation bestimmt ist, beiwohnte. Es könnte wohl kaum ein treffenderes Bild für gegenwärtige Politik geben, als „Final Countdown“, ausgerechnet von einer Band Namens Europe, vorgetragen von einer Coverband im Teatro Amazonas: In durch Subventionen künstlich am Leben erhaltenen bürgerlichen Institutionen des 19. Jahrhunderts spielen Coverbands die Lieder des 20. Jahrhunderts, vor einem mäßig begeistert klatschenden Publikum, das vor allem erschienen ist, weil es keinen Eintritt zahlen musste, während die Welt in Flammen aufgeht. Als wir das Opernhaus verließen, lag Rauch in der Luft. Nebenan brannte der Amazonas als Folge der größten Dürre seit Beginn der Wetteraufzeichnung. „Final Countdown“ in Manaus eben.  

26.03.2024

Miami Vice

“So 80s...even the 80s are jealous”

One of the most legendary scenes of TV history.




Whatever miserable age we’re living through at the moment, it all can be traced back to the 80s TV series Miami Vice. Are we in postcapitalism? Or is capitalism dead and we have already entered the piepline towards neo-feudalism? Future historians will tell. What we can say with certainty today is that there has never been a better moment in human history to watch or rewatch Miami Vice, the TV series than ran from 1984 to 1989. It covers the five crucial years between the epic Apple superbowl ad, introducing the age of personal computers and the not so epic collapse of the Soviet Union, introducing the proclaimed end of history. 

Filmed during the heyday of neoliberalism, with Reagan and Thatcher and Helmut Kohl in power, it is the merit of Miami Vice to capture it all: The sparkling promises of capitalism and the relationships of violence they originate from. If the genre proposal neo-noir refers to the coexistence of these two mutually dependend worlds, I fully agree with it. 

If I could time travel, I would probably choose one of the parties of the Miami upper class taking place in the elegant modernist villas at Miami Beach that make Berghain’s Panorama bar look like a poorly ventilated kindergarten for precarious knowledge-workers and frustrated artists escaping today’s miserable reality on bad ketamine. If I could wear only one outfit for the rest of my life, the main characters of the series, undercover cops “Sonny” Crocket and “Rico” Tubbs, would be my style advisors. 

The Wikipedia entry for Miami Vice exists in 34 languages from all continents. The English entry has seven subchapters: Casting, Locations, Music, Fashion, Firearms, Cars, Boats and flying boats. Especially the latter half of these subchapters already tells a story. Miami Vice negotiates one central question, which becomes more relevant with every day since the series was shot: Are the relationships we have purely transactional? Or is it possible to experience solidarity based on relationships of trust and mutual care? 

Miami Vice has a strong message in answer to these questions: It depends on the efforts we make. In almost every episode, the main characters risk their life to save others. The scenes in which lives are saved, are always preceded by scenes of transit. These scenes of transit are the centerpiece of the series. Either by car or by boat, the detectives do one thing: they step on the gas. There is a clear correlation between the importance of the life that must be saved and the average fuel consumption per hour. Can we imagine the detectives Sunny and Rico on cargo bicycles and stand-up paddle boards? Probably not.   

25.03.2024

Future Null & Echo Storm

Schuhe für eine Welt ohne Zukunft

Die Crocs Echo Storm



In der Zeitung Analyse&Kritik schreibt eine Journalistin aus Moskau auf Seite 9 über den Verlust des Sprachvermögens in der russischen Opposition seit dem Tod von Nawalnyj: „Selbst in Wladimir Putins Reden kommt die Zukunft genau genommen nicht vor oder nur in Form einer nicht enden wollenden ‚militärischen Spezialoperation‘. Der Titel des Artikels: Futur Null. Auf Seite 8 geht es um die Politik der Doppelgänger und warum das Duell Biden vs. Trump schlecht für Biden ausgehen könnte. Auf Seite 7 um die fallenden Dominosteine der Klimakrise und auf Seite 4 um die „Kronkolonie der Konterrevolutionäre“ und wie eine neoliberale Privatarmee im Sudan von den Vereinigten Arabischen Emiraten militärisch unterstützt wird. 

Mit diesen Überschriften ist alles gesagt: Keine Zukunft in der Kronkolonie der Konterrevolutionäre. Es sind nicht nur regionale Zuschreibungen. Was ist Welt heute wenn nicht eine Kronkolonie der Konterrevolutionären ohne Zukunft? Für diese Welt braucht man die richtigen Schuhe: Die Crocs Echo Storm. Außen hart, innen weich. Oder auch: Comfortable Prepping. Inspiriert vom Yeezy Adidas Design verkauft Crocs den Zeitgeist paarweise für 99,99€ in den Farben Nitro, White, Army Green, Midnight, Tundra und Kelp: „Das bahnbrechende, auffallende Design bereichert die Echo Kollektion und verbindet Komfort mit einem ausdrucksstarken Profil wie kein anderes. Der einzigartig geformte Sneaker zeigt, was in puncto ergonomischen Schuhen möglich ist. Jeder Sturm hat seine Geschichte. Das gilt auch hier“.


24.03.2024

Der Bergdoktor

Spannung und Emotionen in den Bergen


Martin Gruber (Hans Sigl) mit gewohnt souveränem Auftreten



Den Bergdoktor gibt es mittlerweile in der siebzehnten Staffel. Das ist ungefähr so lang wie die Kanzerlschaft von Merkel. Viele kennen den Bergdoktor wohl besser als ihren besten Freund. Für viele ist er vielleicht der beste Freund. Wer sehnt sich nach einem Unfall nicht nach einem rettenden Bergdoktor, der sich in seinem gut gepflegten Mercedes zufällig in der Nähe befindet? Unfälle gibt es viele: Auf der Straße, bei der Arbeit, in der Liebe. „There’s always two to make an accident“ und so lange es mindestens zwei Menschen auf diesem Planeten gibt, wird es Unfälle geben. 

Es geht um „Emotionale Geschichten in der Bergwelt des Wilden Kaisers“. Doch eigentlich geht es um die Beziehungen, nach denen wir uns sehnen. Es sind die Szenen des Alltags, in denen etwas passiert und Unfälle erst zur schmerzvollen Wahrheit führen und dann zur Heilung. Die Bergwelt des Wilden Kaisers ist das Leben selbst, mit seinen Höhen und Tiefen und allem dazwischen. 





In the last days of January 2024, almost unnoticed amidst the ongoing militarisation of public debates, we have entered a new era of ecological struggle and historical consciousness in Germany. A headline from the German weekly “Der Spiegel” indicates this shift: “Klimakleber wollen nicht mehr kleben”. This headline doesn’t only describe a change in tactics of climate activist: away from the blockage of streets towards less controversial Habermasian actions. The exit of the “Klimakleber” as the main character in the theatre of ecological struggle in the most influential European country designates a shift in the political unconscious: away from progress towards adaption as telos of our age

Read the full text on the Berliner Gazette Website.
19.02.2024

Alienating Presents. Recovering Futures: 

On 'Futures Industries' and the Political Imagination





Here’s the announcement text of a workshop I co-hosted at my workplace Leuphana University:

Talking about the future is not so easy today. It risks depoliticisation from two opposing sides. Our political imagination oscillates between feelings of hopelessness and fatalism on the one hand, and hollow stories of cruel optimism on the other. Both doom via irreversible climate catastrophe or AI and salvation via technology and green capitalism seem to be waiting just around the corner. All the while, the idea of progress lingers around like a ghost, clearly no longer alive, it refuses to disappear.

In order to avoid nostalgia and futile calls for utopias, the workshop "Alienating Presents, Recovering Futures" addresses questions of future(lessness) and the political imagination from a materialist perspective. We start from the assumption that power has always produced images of the future to program the present according to its interests. Today, this role has been taken over by "futures industries," a concept we borrow from cultural theorist Kodwo Eshun. It allows us to ask how the current imaginative impasse is produced: How can we analyse the workings of today‘s futures industries and what are the material forces that shape our imaginative worlds? Which hegemonic projects compete for our imaginaries of the future, who's part of them and who benefits from them? Beyond a paranoid reading of the present, where can we find latent traces of the not-yet in existing contradictions? What are the terms, concepts, and images that could help us alienate ourselves from the present in order to recover (past) futures? In short: how can we move from the return of history to the return of the end of capitalism?



15.02.2024

The New Society

Where to look for it and how to bring it closer


https://libcom.org/article/facing-reality-clr-james-and-grace-lee-boggs



The book is the most loved title on my reading list. I got the recommendation last year when I was in my Castoriadis era. First, it came as a surprise that the Greek (post)Marxist Cornelius Castoriadis who is most known for his work “The Imaginary  Institution of Society” and the Marxist historian C.L.R James who is best known for his seminal work on the Haitian revolution “The Black Jacobins”  have published a book together. On the other hand, it completely makes sense: Both writers were militant Trotskyists in the 1950s and 60s who challenged and expanded Marxism from different perspectives: James introduced the Haitian slaves as main protagonists on stage of the world revolution. Castoriadis insisted that “creativity” and “imagination” – terms that seem completely co-opted by neoliberalism today - are social categories central to any revolutionary project. 

Just the fact that this book exists is an exciting reminder how Marxism is not a finished project but an open intellectual tradition which brings together different theoretical currents and perspectives united in, well, the aim to make the world a better place. The title and the subtitle are a dialectical unit that remind us of the aspiration that thinking can have: If we are interested in a new society, we have to face reality. By facing reality, we can find the traces that lead to a new society. 

Just imagine someone proposing the idea to a publisher today: “Hey, the other day I met a comrade in Paris, we sat down in a café to have a flat white and we came up with this essay idea. It’s basically on the new society, where to look for it and how to bring it closer. What do you think?”


21.11.2022

Es ist Zeit

Zur Inszenierung von Alexander Giesche’s Momo am Schauspielhaus Zürich.







«Packen wir die Zukunft bei den Hörnern» verkündet die Schlagzeile des Schwarzwaldboten meines Sitznachbarn im Regionalzug von Wolfach nach Offenburg. Kurz darauf gehe ich im ICE von Offenburg nach Berlin der Sache in einer kurzen Internetrecherche auf den Grund. Es handelt sich um einen Appell des wiedergewählten Bundespräsidenten Steinmeiers an die Bundesbürgerinnen: «Nur eines ist gewiss: Die Zukunft ist offen und auf diese Offenheit hat niemand - kein Autokrat und keine Ideologie - bessere Antworten als die Demokratie. Also machen wir uns nicht selbst klein […] seien wir nicht ängstlich – packen wir die Zukunft bei den Hörnern.»

In seiner Inszenierung Momo frei nach dem Kinderbuch von Michael Ende, dessen Premiere am Wochenende von Steinmeiers Wiederwahl der eigentliche Anlass meiner Reise in den Süden war, beschäftigen sich Alexander Giesche und sein Team mit ganz ähnlichen Motiven wie der Bundespräsident: Es geht um den Zusammenhang von Zeit und Macht und es geht um den Einfluss von mehr oder weniger offenen Zukünften auf unsere Ängste und Hoffnungen. Steinmeiers Rede und die Inszenierung von Momo finden dabei vor dem gleichen gesellschaftlichen Hintergrund statt: Stünde es um die Gewissheit einer offenen Zukunft wirklich so gut, müsste sie wohl gar nicht erst beschworen werden. Es gibt viele Gründe ängstlich zu sein, und das nicht erst seit Corona: Während die Klimakatastrophe ungebremst weitereskaliert und patriarchale und rassistische Gewalt nicht enden wollen, planen die Feudalherren des Silicon Valley auf ihren Megayachten die Kolonisierung des Weltraums und die CDU wählt den ehemaligen Blackrock Manager Friedrich Merz als neuen Vorsitzenden. Don’t look up. 

Den ganzen Text auf der Website des Schauspielhaus Journals Zürich lesen.